2012-01-30

Ein Stasi-Bericht über die West-Berliner Kleist-Ausstellung von 1977, Heinrich von Kleist und die Belagerung von Mainz 1793 und warum der Dichter vermutlich doch nicht schwul war

Neue Forschungsergebnisse aus Heilbronn Der Auftrag wurde am 1. Dezember 1977 schriftlich festgehalten und bestand aus sechs Punkten: Besuch und "Einschätzung" von zwei West-Berliner Kleist-Ausstellungen; Erkundigungen über eine dritte, über die bisher nichts bekannt war; Beschaffung einer im Westen neu erschienenen Kleist-Biographie, die man wohl auf anderem Weg nicht bekommen konnte; Ermittlung neuer westlicher Kleist-Literatur sowie abschließend die Überprüfung, ob und unter welchen Bedingungen DDR-Bürger Mitglied der (westdeutschen) Kleist-Gesellschaft werden können. Auftraggeber: Major P., Ministerium für Staatssicherheit der DDR, Abt. II, Spionageabwehr. In einer angeschlossenen Erläuterung wird der Zweck dieser Aktion genannt: "1. Den Einfluß und das Wirken der ständigen Vertretung der BRD in der DDR in bezug auf die 'Kleistpflege' und ihr besonderes Interesse an der KGF [Kleist-Gedenk-und-Forschungsstätte, Frankfurt (Oder)] zu bestimmen. 2. den IMS 'H…' in seiner verantwortungsvollen Arbeit zu unterstützen und ihn weiter an uns zu binden." Knapp zwei Wochen später kann der mit der Durchführung dieses Auftrags betraute 'Otto' seinen Bericht für das MfS diktieren. Zweimal war er - auf welchen Wegen auch immer - beim Klassenfeind im Westen und hat seinen Auftrag gewissenhaft erfüllt. Bei seinem zweiten Westbesuch verlief, wie er betont, "die Hin- und Rückreise […] diesesmal völlig problemlos"; welche Probleme er bei seinem ersten Grenzübertritt hatte, wird nicht ersichtlich. Der Vorgang, der die Nervosität der DDR-Führung nach dem KSZE-Prozeß (1975) und der Ausbürgerung von Wolf Biermann (1976) samt den bekannten Reaktionen im "Arbeiter- und Bauernstaat" erahnen läßt, ist nachzulesen in der eben erschienenen Nr. 23 der "Heilbronner Kleist-Blätter", dem "Jahrbuch aus Heilbronn" (278 Seiten, davon 28 Farbseiten, Gr.8°, ISBN 978-3-940494-53-5, 20 Euro). Erklärtes Ziel des Herausgebers und Direktors des Kleist-Archivs Sembdner Günther Emig ist die Erforschung der Wechselbeziehung zwischen Leben und Werk des Dichters Kleist in wechselnden historischen Konstellationen, von 1811 bis zur Gegenwart. Gerade bei einem Autor, der erst lange nach seinem Tod, im wilhelmischen Kaiserreich, auf den Sockel des Klassikers gehoben wurde, eröffnen sich so neue Forschungsperspektiven, nachdem zu Leben und Werk des Dichters im Grunde längst alles gesagt worden ist, wenn auch nicht von jedem. Ausführlich beschäftigt sich das Heilbronner Jahrbuch auch mit der Frage von Kleists sexueller Orientierung. War er wirklich 'schwul', wie dies mit Bezug auf einen Brief an seinen Freund Ernst von Pfuel immer wieder behauptet wird, oder ist der Brief nur Ausdruck eines übersteigerten Freundschaftskults, wie man ihn bei Zeitgenossen auch sonst antrifft, und wird diesem Brief vielleicht nur deshalb eine so große Bedeutung beigemessen, weil die Überlieferungslage insgesamt dürftig ist? Weitere Themen der Ausgabe: Heinrich von Kleists Novelle "Die Verlobung in St. Domingo" als eine der frühesten chinesischen Übersetzungen deutscher Literatur; Kleist als Gegenstand literarischer Werke; Lutz R. Ketschers "Penthesilea", ein Comic nach Heinrich von Kleist; Deutsche Kleist-Inszenierungen in der zweisprachigen Theaterlandschaft Böhmens und Mährens (1814-1944); ein neu entdeckter Hinweis zur Entstehungsgeschichte des "Zerbrochnen Krugs"; "Michael Kohlhaas" in der Bearbeitung des italienischen Theatermachers Marco Baliani; eine neue Marionettentheater-Inszenierung und schließlich der Film "Die Akte Kleist"; dazu kleinere Beiträge, u. a. ein Hinweis auf eine unbekannte Bearbeitung des "Käthchen von Heilbronn"" durch Kotzebue und eine bisher unbekannte "Käthchen"-Oper (womit wir jetzt glücklich neun kennen). Eine vollständige Inhaltsübersicht siehe: http://www.heinrichvonkleist.org/index.php?page=shop.product_details&category_id=1&flypage=flypage.tpl&product_id=131&option=com_virtuemart&Itemid=1; hier auch das Umschlagbild. Die Kleist-Bibliographie, die seit 1996 jährlich in den "Heilbronner Kleist-Blättern" erscheint, weist allein diesmal satte 400 Titel Sekundärliteratur (Bücher und wissenschaftliche Aufsätze zu Kleist) nach. Eine Kumulation der Kleist-Bibliographie für den Zeitraum von 2001 bis 2010 ist in Vorbereitung und erscheint in der ersten Jahreshälfte 2012. Bezugsadresse der "Heilbronner Kleist-Blätter": Kleist-Archiv Sembdner, Berliner Platz 12, 74072 Heilbronn. www.kleist.org. E-Mail: kleist@kleist.org.