Das + und - in der Algebra
"Sie hat ihn wirklich aufgegessen, den Achill, vor Liebe."
Zweihundert Jahre Amazonendrama - Penthesilea-Comic erschienen
Im Juli 1808 erschien im Verlag der Cottaschen Buchhandlung in Tübingen das Trauerspiel "Penthesilea" des Dichters Heinrich von Kleist (1777-1811). Kleist hatte sein Stück über die Amaönigin in den Jahren 1806 und 1807 geschrieben und im ersten Heft des von ihm in Dresden mitherausgegebenen Journals für die Kunst "Phöbus" im Januar 1808 Auszüge daraus veröffentlicht. Das Werk hätte eigentlich im Selbstverlag erscheinen sollen, weshalb er in Dresden bei Gärtner den Druck auf eigene Kosten in Auftrag gegeben hatte. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten mußte er aber einen Finanzier suchen, den er in Johann Friedrich Cotta, dem Verleger von Goethe und Schiller, fand. Dieser erstattete ihm die bereits angefallenen Druckkosten und zahlte ihm ein Honorar. Wie wenig Cotta sich dann aber um dieses Werk bemühte, kann man unschwer daran erkennen, daß von den insgesamt 800 Exemplaren fast ein Jahrhundert später noch Exemplare dieser Erstausgabe beim Originalverleger erhältlich waren.
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Von den insgesamt acht Theaterstücken Kleists (darin mitgerechnet das "Guiskard"-Fragment) sind nur drei zu Lebzeiten des Autors auf die Bühne gekommen ("Die Familie Schroffenstein" 1804, "Der zerbrochne Krug" 1808 und "Das Käthchen von Heilbronn" 1810), zwei aufgrund glücklicher Umstände gar erst zehn Jahre nach seinem Tod im Druck erschienen ("Die Hermannsschlacht" und "Prinz Friedrich von Homburg"), und so dauerte es immerhin sechzig Jahre, bis es zur - nicht sehr geglückten - Uraufführung der "Penthesilea" mit Clara Ziegler in der Titelrolle kam: am 25. April 1876 wollte man damit in Berlin den 100. Geburtstag des Dichters begehen - um bei dieser Gelegenheit erfahren zu müssen, daß Kleist nicht 1776, sondern 1777 geboren wurde. Wenn es eines Beweises dafür bedürfte, wie ein Autor nach seinem Tod weithin vergessen war, um in der Folge wie ein Phönix aus der Asche wiederzuerstehen und zu den Großen gezählt zu werden, so ist Kleist das schlagende Beispiel dafür.
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Während des Trojanischen Krieges erscheint die Amazonenkönigin Penthesilea mit ihren Mitkämpferinnen auf dem Schlachtfeld. Zur Erhaltung ihres Geschlechts will man junge und leistungsfähige Männer im Kampf überwinden, um sie zum Liebeslager ("Rosenfest") zu führen. Als Penthesilea den Griechen Achill erblickt, entbrennt sie in Liebe zu ihm. Auch er ist entschlossen, sie zu seiner Geliebten zu nehmen. Zuerst aber muß Penthesilea den Mann der Wahl im Kampf besiegen, so lautet das eherne Amazonengesetz. Doch sie unterliegt dem griechischen Helden und bricht ohnmächtig zusammen, ohne den wahren Ausgang des Kampfes mitbekommen zu haben. Um sie vor der Schmach des Besiegtseins zu bewahren, bittet Prothoe, eine der Amazonenfürstinnen, Achill, ihre Königin als Siegerin anzuerkennen; eine fatale Entscheidung, wie sich herausstellen wird. Zwar ist die aus der Ohnmacht erwachende Penthesilea überglücklich, den Geliebten durch Kampf erobert zu haben, doch muß dieser endlich eingestehen, daß er sie und nicht sie ihn besiegt hat, daß also Penthesilea eigentlich seine Gefangene ist. In einem erneuten Zweikampf, zu dem er sie herausfordert und in dem er sich von ihr besiegen lassen will, um dem Amazonengesetz genüge zu tun und ihr folgen zu können, durchschaut Penthesilea seine Absicht nicht. Sie hält sie für Verrat. In blinder Haßliebe zieht sie ihm entgegen, durchbohrt ihn mit einem Pfeil und zerfleischt ihn mit ihren eigenen Zähnen ("Küsse, Bisse, / Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das eine für das andre greifen"). Aus ihrem Wahnsinnsrausch erwacht, gibt sie sich den Tod.
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Die Oldenburger Literaturwissenschaftlerin Sabine Doering weist in ihrer Interpretation des Stücks darauf hin, daß die Zusammenkunft der Liebenden "von vornherein unter dem Zeichen von Täuschung und Illusion [stattfindet], da Achill Penthesilea in dem falschen Glauben läßt, er sei ihr Gefangener, und es für sie zunächst keinen Anlaß gibt, daran zu zweifeln. So kann die Liebe zwischen ihnen gerade nicht zu einer wirksamen utopischen Gegenkraft gegenüber den Mächten werden, die die Freiheit des einzelnen beänken, sondern führt wegen ihres trügerischen Charakgeradewegs in die zerstörerische Katastrophe."
Als polares Gegenstück zu dieser todbringenden Liebe hat Kleist sein "Käthchen von Heilbronn" gesehen, das 1808 abgeschlossen worden ist und 1810 seine Uraufführung am Theater an der Wien erlebt hat: "Denn wer das Käthchen liebt, dem kann auch die Penthesilea nicht ganz unbegreiflich sein, sie gehören ja wie das + und - der Algebra zusammen, und sind ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Bedingungen gedacht."
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Kleist konnte für sein Drama verschiedene Quellen heranziehen, in denen das Wissen seiner Zeit über Amazonen dokumentiert war, so etwa Benjamin Hederichs "Gründliches mythologisches Lexicon" von 1770. Als seine ureigene Erfindung hingegen gilt der Bericht von der sagenhaften Gründung des Amazonenstaates als Folge weiblicher Selbstbehauptung gegenüber der brutalen Gewalt männliEroberer sowie die Beschreibung des Rosenfestes, bei dem die Amazonen in arkadischer Umgebung mit den von ihnen zuvor besiegten Gegnern zusammenkommen, um ihre Nachkommenschaft zu zeugen.
Daß die Zeitgenossen das Stück entschieden ablehnten, verwundert nicht. Kleists Antikenbild entsprach durchaus nicht der durch Johann Joachim Winckelmann vermittelten humanen Vorstellung vom Altertum, wie es durch Goethes "Iphigenie" literarisch wirksam war.
Dazu kommt eine theatrale Sperrigkeit, die auch andere Werke Kleists auszeichnen: Das Bühnengeschehen gehört in den Bereich des "unsichtbaren Theaters" (Goethe), wir sehen vielfach nicht, was stattfindet, sondern werden durch den Bericht eines Boten oder eines Beobachters in Kenntnis gesetzt, der das Geschehen außerhalb des Bühnenraumes simultan beschreibt (Mauerschau bzw. Teichoskopie).
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Heute gelangt das Stück immer wieder auf die Bühne. Das Kleist-Archiv Sembdner, das auf seiner Internetseite (www.kleist.org) die Theaterpremieren im deutschsprachigen Raum dokumentiert, führt für die letzten fünf Jahre knapp zehn Neueinstudierungen für den gesamten deutschsprachigen Bereich an.
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Wie viele Werke Kleists, so hat auch seine "Penthesilea" vielfache Adaptionen erfahren. Genannt seien im Bereich der Musik Hugo Wolfs Sinfonische Dichtung für großes Orchester "Penthesilea" (1883-1885) und Othmar Schoecks gleichnamige Oper in einem Aufzug von 1927. Für die bildende Kunst konnte die Berliner Kunstwissenschaftlerin Barbara Wilk-Mincu neben Buchillustrationen auch Mappenwerke, u. a. von Oskar Kokoschka (1970) nachweisen, und soeben hat das Kleist-Archiv Sembdner in Heilbronn nicht nur einen Reprint der Erstausgabe, sondern auch einen Comic des Künstlers Lutz R. Ketscher (* 1942 in Gera) herausgebracht, der den kompletten Kleist-Text in seine sehr naturalistisch gezeichneten Bilderfolgen eingebracht hat.
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Penthesilea. Ein Trauerspiel von Heinrich von Kleist. Tübingen: Im Verlage der Cottaischen Buchhandlung und gedruckt in Dresden bei Gärtner [1808]. 176 S. - Reprint: Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2008. ISBN 978-3-940494-09-2. 15 Euro.
Lutz R. Ketscher: Penthesilea. Comic. Nach Kleists Trauerspiel. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2008. 64 Seiten, Großformat, vierfarbig. (Kleist in der bildenden Kunst, Band 2). ISBN 978-3-940494-04-7. 15 Euro.